Die Decke, unter der sie im durchfallbraunen Krankenhauswickelhemdchen liegt, ist petrolfarben. Siemenspetrolfarben, und sie fragt sich, ob Siemens, wenn es MRA-Geräte in alle Welt versendet, direkt die farblich zum Schriftzug passende Wolldecke mitschickt oder ob es Zufall ist, dass ausgerechnet diese Decke siemenspetrolfarben ist, unter der sie nun im durchfallbraunen Krankenhauswickelhemdchen in die Röhre geschoben wird. Wobei sie zugeben muss, dass das durchfallbraune Krankenhauswickelhemdchen farblich wirklich gut zum Siemenspetrol passt. Das sieht sie, wenn sie an sich hinunterlugt, im liegenden Zustand.
Wer auch immer sich das Raumdesign überlegt hat, kann kein Asiate gewesen sein. In die Decke sind bedruckte Plexiglasplatten eingelassen, die von hinten beleuchtet werden. Bevor man also in die Röhre fährt mit einem leichten Surren, blickt man, mit Klettband in Hüfthöhe lose unter der siemenspetrolfarbenen Decke fixiert, in einen strahlendblauen Lampenplattenhimmel, in den Frühlings-Kirschblütenzweige und grüne Baumkronen hineinragen. Grüne Baumkronen, wie es sie nicht gibt in Asien. Das sind eindeutig europäische Baumkronen, denkt sie im durchfallbraunen Krankenhauswickelhemdchen in der Horizontalen. Vermutlich liefert Siemens das komplette Interieur mit, wenn es Magnetresonanzröhren verkauft.
Die Ohrstöpsel allerdings, die es dazugibt, sind gelb. Das passt nicht so ganz zum restlichen perfekt aufeinander abgestimmten Look, aber zum Glück stecken sie in den Ohren und man sieht sie nicht. In der Röhre rumpelt und tuckert es. Es werde laut, hatte der Radiologe gewarnt. Und man solle etwas schlafen. Offenbar merkte er nicht, dass das nicht so ganz passt mit dem Lautsein und dem Schlafen, aber er sagte auch, dass man sich nicht bewegen solle, zumindest den Kopf auf keinen Fall, und dass er, wenn man den Blasebalg drückt, den er einem gibt, sofort kommt: „Emergency.“ Dann kommt er aber nicht, sondern geht erst mal und schließt die schwere Schiebetür hinter sich, die ihn vor Strahlen oder Magneten oder sonst was schützen wird.
Sie ist allein in dem Raum, brav bewegungslos auf der Liege, das Gesicht unter einer Art Plastikgitter, das sie an ein viel zu grobes Visier im Football erinnert, und das ihren Kopf ruhig halten soll. Bevor es laut wird in der Röhre und rumpelt und surrt und tuckert und rasselt, hört sie Musik. Die war die ganze Zeit schon an, vermutlich soll sie den Patienten Normalität suggerieren: „Seht her, es ist ein bisschen wie im Spa, ihr tragt einheitliche Hemdchen und es dudelt was Zwitscherndes im Hintergrund.“ Sie ist ruhig und komplett entspannt, obwohl sie da im durchfallbraunen Krankenhauswickelhemdchen irgendwo in Denpasar alleine in einem Strahlenraum liegt. Die Fahrstuhlmusik wechselt, ohne dass sie es bemerkt, zu indonesischer Popmusik, und irgendwann spielen sie „Mandy“ von Barry Manilow. „Das ist verrückt“, denkt sie, und fragt sich, wie passend es ist, von verrückt zu sprechen, während der Kopf gescannt wird, und lacht über die Musikauswahl. Aber nur ganz wenig, weil sie sich ja nicht bewegen soll und sich daher nicht traut, das Gesicht zum Grinsen zu verziehen. Manchmal ist das Rattern und Rumpeln und Tuckern so laut, dass die Musik übertönt wird. Dann wieder ist Stille, und sie weiß nicht, ob es vorbei ist oder nur die nächste Vermessungsrunde ansteht. Es dauert etwa eine halbe Stunde, das hatte der Radiologe vorher gesagt. In der Röhre verliert sie jedes Zeitgefühl. Sie lauscht dem Getuckert und Geratter und Mandy.
Irgendwann ist nur noch Musik zu hören, und mit einem Surren fährt die Trage aus der Röhre. Die Show ist vorbei, sie guckt wieder den Lampenplexiglashimmel an, bis der Radiologe kommt und sie losschnallt. „Ganz schön laut ist das Ding“, sagt sie. „Da muss man sich mal bei Siemens in Deutschland beschweren.“ Er lacht. Auf seinem Namensschild steht „Made“, wie hier auf fast jedem Namensschild Made steht; balinesische Kinder werden einfach mit vier Namen durchnummeriert. Kommt ein fünftes, fängt man wieder von vorne an. Made grinst. „Oh, Du bist Deutsch!“, fragt er ein bisschen wie eine Aussage. Und dann grinst er noch mehr: „Congratulations for winning the worldcup final!“ Man smalltalkt ein bisschen, und als sie sagt, dass sie das Finale nicht gucken konnte, da staunt er und ist darüber offenbar entsetzter als über jedes Ergebnis, das die Röhrenshow ihm aus ihrem Kopf auf seinen Monitor liefern könnte.
„Irgendwie nett hier“, denkt sie und knotet das durchfallbraune Krankenhauswickelhemdchen, das eigentlich einen ganz hübschen Schnitt hat, wenn nur diese Farbe nicht wäre, noch mal nach. Dann hüpft sie von der Liege, zu früh, die Liege wurde noch nicht heruntergefahren, und so hüpft sie viel tiefer, als sie sich das vorgestellt hatte.
Es kommt ihr vor wie eine Wohlfühloase, dieses Krankenhaus, das viel mehr Service und Freundlichkeit hat als Krankenhäuser in Deutschland. Sie lächelt, als sie über den Flur schlufft, um sich in einer Umkleide ihres durchfallbraunen Krankenhauswickelhemdchens zu entledigen, weil alles so skurril und unerwartet ist. Als sie an einer offenen Tür vorbeikommt – mit Privatsphäre haben sie es nicht so –, sieht sie eine dickliche blonde Frau im Trägershirt auf einer Liege sitzen; den Rücken zur Tür. Sie geht weiter, und kurz darauf schreit die dickliche blonde Frau, vor der zwei Ärzte standen, wie am Spieß. Ihr Mann steht auf dem Gang und guckt betreten zur unfreiwilligen Zeugin, als wolle er sich entschuldigen für das Geschrei seiner Frau, die offenbar schlimme Schmerzen hat. Dann kommt der Radiologe und schiebt die Tür zu von außen; das scheint er ganz gerne zu machen: Türen zuzuschieben. Falls die dickliche Frau noch schreit, hört man es nun nicht mehr. Das Spa-Gefühl ist wieder hergestellt. So sehr, dass sie in der Umkleide noch schnell ein Selfie im durchfallbraunen Krankenhauswickelhemdchen schießt. Dafür wird sie später viel Lob bekommen. Gut sehe sie aus, was für ein Glück. So gesund.